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Soziale Organisation von Migrationsprozessen - Zuwanderung in westliche Gesellschaften

Schon die oberflächliche Betrachtung gegenwärtiger Trends weist darauf hin, daß die internationale Migration zu einem Phänomen geworden ist, dessen globale Dimension nicht mehr vernachlässigt werden kann - auch wenn die befürchtete Massenemigration aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zumindest bislang nicht eingetreten ist. Eine zunehmende Anzahl von Ländern aller Kontinente ist von Einwanderung, Auswanderung oder beidem betroffen. Neben diesem Trend der Globalisierung ist die Akzeleration von Bevölkerungsbewegungen über nationale Grenzen hinweg zu beobachten. Die Folge beider Trends ist offensichtlich: Immer mehr Menschen leben - legal und illegal - außerhalb des Landes ihrer Nationalität: je nach Sichtweise und Wanderungsmotiv als Einwanderer, Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge, Arbeitsmigranten oder Asylbewerber bzw. - berechtigte.

Auch westliche Industrienationen sind, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Einwanderungsländer verstehen oder nicht, von der weltweiten Wanderung betroffen. Als Inseln des Wohlstands und der Sicherheit sind sie in zunehmendem Maße Ziele von Einwanderungsströmen aus Herkunftsländern im ärmeren bzw. konfliktreicheren "Rest der Welt". Die rapide Zunahme der Immigration hat sich in den Vordergrund der Problemwahrnehmung geschoben, und innerhalb kurzer Zeit wurde Migration zu einem wichtigen Thema nationaler und internationaler Politik. In vielen westlichen Wohlstandsgesellschaften sind als Reaktion auf den Migrationsdruck Schließungstendenzen durch die Errichtung von Migrationsbarrieren feststellbar.

Schließungsversuche der westlichen Industriegesellschaften sind nicht nur heute feststellbar, es gab sie auch schon in der Vergangenheit. Seit mehr als zwanzig Jahren zielt beispielsweise die britische Migrationspolitik darauf ab, Immigration zu reduzieren und auf einem unausweichlichen Minimum zu halten. In Deutschland bildete der sogenannte Anwerbestopp, der zu Beginn der siebziger Jahre erlassen wurde, den Anfang einer Ausländerpolitik, die auf Abwehr von weiterer Immigration ausgerichtet ist. Aus heutiger Sicht kann man sagen, daß die Schließungsversuche westlicher Industrienationen nur begrenzt wirksam waren. Nach Einschätzung von D.A. Coleman liegt die Wirklichkeit der britischen Einwanderungssituation weit von den genannten politischen Zielen entfernt, und auch in Deutschland hat der Anteil ausländischer Bevölkerung in den letzten zehn Jahren bekanntermaßen nicht etwa abgenommen, sondern ständig zugenommen. Diese Diskrepanz zwischen politischen Zielen und Wirklichkeit ist auch für andere westliche Industrieländer feststellbar.

Offensichtlich unterliegen die Einwanderungsprozesse in westliche Industrienationen einer Dynamik, die politisch nur begrenzt kontrolliert oder unterbunden werden kann. Insofern könnte auch von relativer Autonomie der Einwanderungsprozesse gesprochen werden: Bis zu einem gewissen Grad findet Immigration unabhängig davon statt, ob dies gewünscht wird oder nicht. Insbesondere die enorme Zunahme der "unerwünschter" Migration während der letzten zehn Jahre in Westeuropa, aber auch in klassischen Einwanderungsländern ist ein deutlicher Hinweis auf die angesprochene Eigendynamik von Migrationsprozessen.

Das Thema des Forschungsprojekts wäre mit der Beschränkung auf das Umfeld illegaler Migration nicht hinreichend umschrieben. Einwanderungsprozesse sind auch deshalb nicht vollständig kontrollierbar, weil staatliches Handeln juristischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bindungen unterliegt. Die "rights revolution" bringt nicht nur humanitäre Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen oder zur Gewährung eines Mindestmaßes an Familienzusammenführung mit sich, sondern erschwert es auch den Industrienationen Migranten abzuschieben, die bleiben wollen. Ökonomische Bindungen entstehen durch den Druck von Interessengruppen, die billige ausländische Arbeitskräften in verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes wünschen.

Die transnationale Perspektive, die mit der Betrachtung "westlicher Wohlstandsgesellschaften" eingenommen wird, unterstellt die Ähnlichkeit der nationalen Strukturen, die der Eigendynamik von Einwanderungsbewegungen zugrunde liegen. Unterschiede zwischen "klassischen" Einwanderungsländern und westeuropäischen Ländern scheinen zurückzugehen, wie der Vergleich von Wanderungsprozessen nach Australien und Deutschland nahelegt. Die transnationale Sichtweise wird weiterhin durch die zunehmende politische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung der genannten Länder gestützt, sowie durch die zunehmende Homogenität bestimmter sozialstruktureller Aspekte, die Bornschier (1988) trotz bestehender nationaler Unterschiede dazu bewegt haben, zusammenfassend von der westlichen Zentrumsgesellschaft zu sprechen.

Die Eigendynamik der Einwanderungsbewegungen kann ohne ihre entscheidende Triebkraft nicht verstanden werden: Die Motivation zur Migration - unter anderem bedingt durch die Globalisierung von Kommunikationsmedien - ist heute bei vielen Menschen in aller Welt so hoch, daß sie häufig Mittel und Wege finden, in ein für sie attraktives Land zu gelangen. Dies kann auf legale oder illegale Weise geschehen, im sozialen Netzwerk mit Hilfe von Bekannten und Verwandten, mit Hilfe von Schlepperdiensten, internationalen Heiratsorganisationen oder auch auf eigene Faust. Die soziale Organisation von Wanderungsprozessen ist für die Eigendynamik der Migrationsbewegungen von großer Bedeutung, da sie in vielfacher Weise darauf angelegt ist, Wanderungsbarrieren zu überwinden. Migration ist auch zu einem weltweit betriebenen Geschäft geworden, und man kann in diesem Zusammenhang vom Wachstum einer "Migrationsindustrie" sprechen, der es darum geht, legal und illegal möglichst große Profite durch Migration oder internationalen Handel von Menschen zu erwirtschaften. Jonas Widgren (1994) schätzt das weltweite Einkommen, das durch "trafficking in migrants" entsteht, auf 5 bis 7 MRD US-$.

Durch Vermehrung weltweiter internationaler Wanderung hat sich eine Sphäre sozialer Wirklichkeit entwickelt, die soziologisch bislang zu wenig beachtet wurde. Es scheint lohnend, den Blick soziologischer Analysen über die Problematik der Anpassung von Ausländern oder Bildung ethnischer Kolonien hinaus auf Aspekte zu richten, die näher am Vollzug räumlicher Bewegung liegen: rechtliche, politische und soziale Ausgangsbedingungen, Verkehr, Einsatz von Kommunikationsmedien, legale und illegale Überwindung von Migrationsbarrieren, Professionalisierung von Wanderung, Marktprozesse u.ä.

Die thematische Ausrichtung des Forschungsprojekts fokussiert Aspekte, die im Zusammenhang mit aktuellen Einwanderungsbewegungen in westliche Wohlstandsgesellschaften stehen. Das Ziel der beabsichtigten Analyse besteht darin, die Dynamik dieser Wanderungsbewegungen zu verstehen sowie damit verbundene Wanderungsphänomene und Formen ihrer soziale Organisation zu beschreiben. Die Bearbeitung dieses Themas ist auch deshalb lohnenswert, weil die immer wieder erhobenen Forderungen nach Entwicklung und Implementierung politischer Maßnahmen eine möglichst gegenwartsnahe Analyse internationaler Migration erfordert, die den Blick auch auf die Grenzen des Handlungsspielraumes und die damit verbundene transnationale Problematik eröffnet.

Die Aufgabenstellung des Forschungsprojekts besteht darin, relevante transnationale und globale Randbedingungen der sozialen Autonomie aktueller Einwanderungsbewegungen ins westliche Zentrum zu beschreiben und eine Phänomenologie dieser Wanderungsbewegungen im Zusammenhang mit den Formen ihrer sozialen Organisation zu entwickeln. Als weitere Aufgabenstellung kommt die Diskussion der Ergebnisse im Kontext von Migrationstheorie und globalen Einwanderungsbewegungen hinzu.

Förderung: DFG
Abschluß: September 1999
Bearbeiter: Thomas Müller-Schneider
Veröffentlichungen:
Müller-Schneider, Thomas: Wertintegration und neue Mobilität. Theorie der Migration in modernen Gesellschaften.. 104 Seiten (deutsch). efms, Bamberg 2003.
Müller-Schneider, Thomas: Zuwanderung in westliche Gesellschaften. Analyse und Steuerungsoptionen. Habilitationsschrift, 335 Seiten (deutsch) mit 6 Tabellen und 7 Abbildungen. Leske und Budrich, Opladen 2000.


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